Es gibt Momente im Leben, die uns länger begleiten als uns lieb ist. Vielleicht kennst Du das auch: Situationen, in denen wir anders hätten reagieren wollen (oder sollen). Begegnungen, die uns im Rückblick noch einmal mitten im Herzen berühren und sich vielleicht wie ein „Stich“ anfühlen. Entscheidungen, bei denen etwas in uns sagt: Das war noch nicht stimmig für mich. Manchmal fühlt es sich dann an wie „ein Knoten“, ein Gefühl aus Bedauern, Ungeduld mit Dir selbst oder dem Wunsch, „es besser machen zu müssen“. Und genau hier darf etwas Wesentliches beginnen: die Einladung, Dich selbst neu und freundlicher zu betrachten.
Was ist Selbstvergebung?
Selbstvergebung bedeutet, dass Du Dir selbst mit Mitgefühl begegnen darfst, wenn Du Fehler gemacht hast oder gegen Deine eigenen Werte gehandelt hast. Sie hilft dir, dass anzuerkennen was geschehen ist, ohne dass Du Dich dauerhaft dafür verurteilst. Es geht nicht darum, etwas zu entschuldigen. Vielmehr darum, den eigenen Anteil zu verstehen und dafür Verantwortung zu übernehmen. Gelebte Selbstannahme schafft inneren Frieden, kann Selbstvorwürfe reduzieren und Raum für persönliches Wachstum eröffnen. Sie kann Dir ermöglichen, aus Erfahrungen zu lernen und nach vorne zu schauen, anstatt an „Altem“ festzuhalten. Es ist kein Geheimnis: Viele Menschen in meiner Praxis wollen (auch) lernen, mit sich selbst freundlicher und wohlwollender umzugehen. Manchmal offensiv, in dem sie mit etwas aus der Vergangenheit oder der Gegenwart hadern. Gelegentlich auch als „Beiwerk“ von Entwicklung, zum Beispiel im Rahmen von Bestandsaufnahme des persönlichen Lebens mit dem Blick und dem Kräftesammeln für gute Entscheidungen, in die Zukunft gerichtet.
Warum Selbstvergebung manchmal schwer fällt – und wie der systemische Blick uns beim Verstehen hilft
Wenn Menschen über Selbstvergebung sprechen, taucht nicht selten eine ähnliche Erfahrung auf: „Bei anderen kann ich verständnisvoll sein, bei mir selbst fällt mir das schwer.“ Warum ist das so? In der systemischen Arbeit betrachten wir nicht nur die Person, sondern auch ihr Umfeld, ihre Geschichte, ihre Rollen und die Erwartungen, die auf ihr lasten. Und plötzlich wird sichtbar: Viele innere Vorwürfe entstehen nicht aus Bosheit gegen sich selbst, sondern aus einer tiefen Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Stimmigkeit oder Integrität.
Frage Dich selbst einmal:
- Aus welcher Haltung heraus habe ich damals gehandelt?
- Welche Bedürfnisse waren im Hintergrund aktiv?
- Wen oder was wollte ich vielleicht schützen – mich, andere, eine Beziehung, ein Bild von mir selbst?
Wenn Du auf diese Weise schaust, kann eine „harte Realität“ manchmal etwas weicher werden. Aus Härte wird Verständnis, in dem Du verschiedene Blickwinkel integrieren kannst. Selbstkritik kann sich in ein Gefühl von Neugier verwandeln: „OK, soundso kann ich das auch sehen“. Aus dem Gefühl von Scham kann eine Tür zu Wachstum geöffnet werden: „Hier habe ich aus guten Gründen so gehandelt. Vielleicht gibt es heute andere, bessere Gründe neu oder anders zu handeln“?
Wie Selbstvergebung Beziehung, innere Balance und Deine Handlungskraft stärkt
Schuldgefühle oder innere Vorwürfe wirken nicht selten destruktiv und lähmend. Sie beeinflussen auch, wie Du atmest, wie Du schläfst, wie Du sprichst, wie Du auf andere zugehst, wie Du Dich entscheidest und wie Dein Körper sich anfühlt. Sie können fein und kaum wahrnehmbar sein, wie ein Hintergrundrauschen, oder aber stärker, wie ein inneres „Klappern und Klingeln“, das sich Dir ständig „aufdrängt“. „Hätte ich doch hier…, könnte ich das…, wäre dies …“ Doch was passiert, wenn Du beginnst, milder mit Dir selbst zu werden?
Viele Menschen, die lernen, sich selbst ein besserer Freund, eine bessere Freundin zu sein, berichten: Die Atmung wird tiefer und ruhiger, der Körper ist weniger verspannt und fühlt sich leichter an, innere Dialoge werden freundlicher geführt. Beziehungen zu Freunden oder Familie werden entspannter und wohlwollender geführt, Entscheidungen fühlen sich stimmiger an. Selbstvergebung schafft einen Raum, in dem Du Dich selbst wieder spürst – jenseits von Schwere und gegen Dich gerichteten Erwartungen.
Wäre es möglich, dass Deine Muster längst überholt sind?
Vielleicht magst Du Dich fragen: Wie würde mein Leben aussehen, wenn ich mich nicht mehr über das definiere, was mir nicht gelungen ist, sondern über das, was mich wachsen lässt? Das kann ein gedanklicher, perspektivischer Paradigmenwechsel sein, der manchmal beraterisch-therapeutische Begleitung erfordert und kluge Fragen. Das eigene „Gedankenmodell“ oder „alte Muster“ hinter sich zu lassen führt nicht selten zu einem großen Zuwachs an persönlichen Freiheitsgraden und lässt Menschen wieder (mehr) in ihre Kraft kommen.
Selbstvergebung ist kein „Freibrief“ – sondern ein weiser Akt der Selbstführung
In der persönlichen Begleitung in meiner Praxis geht es nie darum, die eigene Verantwortung abzugeben. Im Gegenteil: Selbstvergebung bedeutet, Verantwortung auf eine gereifte, liebevolle Weise zu übernehmen. Oft kann die Frage hilfreich sein: Was wollte die damalige Version von mir eigentlich ermöglichen oder vermeiden? Diese Perspektive würdigt Dein damaliges Handeln als Teil Deines Lebenswegs – als Versuch, mit den damaligen Ressourcen, Mustern, Hoffnungen und Ängsten umzugehen. Wenn Du Dich selbst würdigst, wirst Du nicht kleiner, sondern lernst einen bestimmten Aspekt von Dir selbst mehr kennen.
Wege zur Selbstvergebung: So kannst Du in vier Schritten Deine Kraft (zurück) kommen
Sich selbst zu vergeben ist selten eine einzelne und einmalige Entscheidung, sondern ein Prozess mit mehreren Etappen. Diese Etappen können kleinere, aber auch größere Schritte sein. Und die Wege zwischen diesen Etappen können unterschiedlich lange dauern. Hier vier Wege, die besonders gut in eine systemische Haltung eingebettet sind:
Selbstvergebung als Betrachtung einer Situation im Kontext
Stell Dir vor, Du würdest die „Szene von damals“ von außen betrachten, als wertschätzende, neugierige Beobachterin oder Beobachter. Was siehst Du dann? Welche Bedingungen waren da? Welche Rolle(n) hast Du getragen? Welche Ängste, Freuden und Leiden haben auf Dich gewirkt? Dieser Blick kann Dir helfen, das was war mit anderen Augen zu sehen.
Ein Gespräch mit Deinem damaligen Ich
Was hast Du damals gebraucht? Was hättest Du Dir gewünscht? Was würdest Du ihm oder ihr heute liebevoll sagen? Diese Schritte können Verbindung statt Bewertung schaffen. Vielleicht braucht Dein Ich von damals eine wohlwollende, liebevolle und helfende Hand die du ihm aus dem Hier und Jetzt reichen kannst?
Das Gelernte würdigen
Jede Erfahrung – auch die Schmerzhafte – trägt eine Information für Dich. Welche Stärke, welche Einsicht, welche Klarheit ist heute in Dir, die es vorher nicht gab? Dieser ressourcenorientierte Blick kann Dir helfen, wertvolle (Lern-)Erfahrungen mit in Deine Zukunft zu nehmen.
Unterstützung und ein Spiegel, der Dich stärkt
Manchmal brauchen wir ein Gegenüber, das uns hilft, wieder in Balance zu kommen. Der uns unterstützt und wieder auszurichten und zu erfahren: Du bist mehr als dieser Moment. (Professionelle) Begleitung, sei es im Coaching, in Therapie oder in vertrauensvollen Beziehungen, kann diesen Prozess vertiefen und beschleunigen.
Selbstvergebung als Quelle innerer Weite, Würde und neuer Lebenskraft
Ich erlebe oft, dass Menschen die Selbstvergebung praktizieren, davon berichten, dass es in ihnen ruhiger wird. Sie können sich mehr von vergangenen, negativen Gefühlen distanzieren, ohne diese zu negieren oder von sich wegzuschieben. Vielmehr integrieren sie diese Gefühle auch mit der inneren Gewissheit, Mensch sein zu dürfen, zu lernen und zu wachsen. Nicht selten werden „alte Glaubenssätze“ aus dem eigenen Aufwachsen ersetzt durch freundlichere, wertschätzendere und angenehmere Überzeugungen über sich selbst.
Welchen Schritt zu mehr Selbstvergebung möchtest Du heute mit Dir gehen? Wie würde die Beziehung zu Dir selbst und zu anderen davon profitieren können? Wem würdest Du damit gerne ein Vorbild sein (wollen)?
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