Therapeut*in und eigene Probleme?

Eigene Themen als Therapeut

Inhalt

Besonders in der Ausbildung angehender Therapeut*innen schleicht sich manchmal leise die Frage ein: „Kann ich überhaupt glaubwürdig und verantwortungsvoll arbeiten, obwohl ich selbst noch eigene Themen habe?“ In diesem Blogbeitrag möchte ich diese Frage, die fast immer in unseren Ausbildungsseminaren gestellt wird, näher beleuchten und mich diesem Thema annähern.

Der Mythos der perfekten Therapeut*in

Vielleicht hast Du den (unausgesprochenen) Satz auch schon gehört: „Ein Therapeut muss makellos und rundum seelisch gesund sein.“ Diese Vorstellung hält sich hartnäckig, ist aber weder realistisch noch hilfreich. Die Psychotherapieforschung zeigt, dass therapeutische Wirkung vor allem von der therapeutischen Beziehung, also der Fähigkeit der professionellen Beziehungsgestaltung von Therapeut*innen, lebt. Mit anderen Worten: Empathie, Nahbarkeit und Menschlichkeit machen die besondere Qualität im Kontakt aus. Es geht also keineswegs um „Perfektion“: Wichtig ist, wie bewusst Du eigene Themen wahrnehmen kannst und wie Du mit dieser Erkenntnis umgehst.

Fallvignette: „Marions eigener Schmerz

Marion ist 44 Jahre alt und steht kurz vor dem Abschluss ihrer Ausbildung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie. In einer laufenden Einzelsitzung erzählt ihre Klientin Franziska (39) zum ersten Mal von einem tiefen Vertrauensbruch in ihrer Kindheit. Ihr Vater habe sie regelmäßig emotional manipuliert, abgewertet und beschämt. Marion spürt in den sehr ausführlichen Erzählungen, wie ihr innerlich der Atem stockt. In ihr wird eine alte Wunde berührt, die sie selbst erst vor einigen Jahren begonnen hat aufzuarbeiten: die toxische Beziehung zu ihrer eigenen Mutter. Im Anschluss an die Sitzung fühlt sich Marion aufgewühlt. Sie ist verunsichert und fühlt sich selbst fast beschämt. Sie fragt sich: Darf mich das als Therapeutin so treffen? Sollte ich nicht souveräner bleiben können? Doch anstatt sich zu verstecken, geht Marion mit ihrem Thema einen für sich hilfreichen Weg.

Umgang mit eigenen Themen in der Therapie

Sie schreibt ihre Reaktion auf. Nicht zur Bewertung, sondern zur Klärung: Was genau hat mich so getroffen? Welche Formulierung der Patientin, welcher Blick, welche Erinnerung, was genau wurde in mir wachgerufen? Welche Situation erscheint mir vor Augen? Im Anschluss bringt sie die Situation in ihre Intervisionsgruppe, die sich alle vier bis sechs Wochen trifft. Im Gruppensetting kann sie den Fall schildern, und ihre Kolleg*innen stellen hilfreiche Verständnisfragen dazu. Diese helfen ihr, im geschützten Rahmen noch einmal nachzuspüren und erlauben ihr auch eine differenziertere Betrachtungsweise. Eine erfahrene Kollegin gibt ihr am Ende der Fallintervision den Satz mit: „Dass dich das berührt, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Verbundenheit. Du bist verbunden mit deinem Thema vom ‚Dort und Damals‘ und kannst in Kontakt gehen damit. Auch die Empfindsamkeit für den Schmerz der Klientin ist eine Stärke.“

Marion erkennt für sich, dass der bewusste Umgang damit ein Schlüssel für sie ist und auch, dieses Thema gut im Blick zu haben. Sie möchte es in einem Abstand von drei bis vier Monaten noch einmal in der Intervisionsgruppe ansprechen. In den folgenden Stunden mit Franziska gelingt Marion eine besonders achtsame Begleitung. Ihre eigenen Erfahrungen ermöglichen es ihr, im Gespräch Raum für das Thema zu lassen und hilfreiche Fragen zu stellen. Ihre Klientin fühlt sich zutiefst verstanden, ohne dass Marion je über sich selbst gesprochen hätte. Der Umgang von Marion mit ihrem eigenen Thema war hilfreich für sie selbst und auch für Franziska.

Achtsame Verantwortung: Selbstfürsorge für sich selbst und Patient*innen

Der Umgang von Marion zeigt uns, dass nicht die Situation entscheidend ist, sondern der Umgang damit. Diese Punkte können Dir helfen, Deine „therapeutische Kraft“ immer weiter auszubauen und zu erhalten:

  • Regelmäßige Supervision oder Intervision: Nutze Kollegialität als Spiegel. Offenheit in der Gruppe schützt Dich und Deine Klient*innen.
  • Eigene Therapie oder Coaching: Tieferliegende Themen verdienen einen guten Platz, allerdings nicht in der therapeutischen Stunde mit Klient*innen.
  • Selbstfürsorge-Routinen: Schlaf, Pausen, Bewegung, Ernährung: Oft unterschätzt, aber entscheidend für Deine eigene körperliche und psychische Gesundheit.

Mini-Check: Habe ich ein Thema mit dem Patient*innenthema?

Dieser kleine Mini-Check kann Dir eine erste Orientierung geben, ob Du gerade mit einem eigenen Thema „involviert” bist:

🔴 Rot: Starke emotionale Resonanz
Ich spüre starke Emotionen (z. B. Ärger, Traurigkeit), die intensiver sind, als es die Situation rechtfertigen würde. Das Thema kommt mir „zu nah“ oder ich fühle mich ungewöhnlich distanziert.

🟡 Gelb: Echo aus der eigenen Biografie
Das Thema oder die Dynamik kommt mir aus meiner eigenen Lebensgeschichte bekannt vor. Es gibt Parallelen zu meinen eigenen Erfahrungen oder ungelösten Konflikten.

🟢 Grün: Reaktion auf die therapeutische Rolle
Das Thema berührt mich, und ich kann in der Sitzung empathisch sein und bin berührbar. Im Rahmen der Nahbarkeit kann ich gut mitschwingen und am Ende der Sitzung dies auch wieder gut „gehen lassen“.

Wachsen auf dem Weg: Das „Unperfekte“ als Normalzustand akzeptieren?

Therapeutische Kompetenz entsteht nicht trotz, sondern mitten in unserer menschlichen Unvollkommenheit. In der therapeutischen Ausbildung ist daher das Thema Selbsterfahrung unumgänglich. Offene Themen (persönliche Entwicklungsfelder) sind dabei nicht ungewöhnlich (Du lebst!) und kein „Makel“. Es ist eine Erinnerung daran, dass auch alle Menschen lebenslang Lernende sind. Wenn wir „berührt“ werden von den Themen unserer Klient*innen, dürfen wir achtsam (auch mit uns selbst) mitgehen und uns bei Bedarf selbst Unterstützung holen. Perfektion ist immer lähmend: So wollen wir keine perfekten „Therapeut*innen“ sein, sondern echte, lebendige Begleiter*innen, die sich stets selbst auch als Aufgabe wahrnehmen.

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