Therapeutenfutter: Wenn Du als Berater*in unbemerkt in Deine „eigene Agenda“ rutschst

Therapeutenfutter: Wie Klienten die Themen ihrer Therapeuten bedienen

Inhalt

Der Begriff Therapeutenfutter wirkt auf den ersten Blick provokant, vielleicht sogar respektlos. Doch genau diese Irritation ist hilfreich, denn der Ausdruck beschreibt ein Phänomen, das in Coaching, Beratung und Therapie erstaunlich häufig vorkommt und dennoch selten benannt wird. Therapeutenfutter bezeichnet jene Momente, in denen Deine Klient*innen unbemerkt zu Träger*innen Deiner eigenen Bedürfnisse, Sehnsüchte oder unreflektierten Impulse werden. Sie dienen, ohne es zu wissen, nicht mehr ihrem eigenen Anliegen, sondern Deinem inneren Hunger: dem Hunger nach Wirksamkeit, nach Tiefe, nach Bedeutung, nach Professionalisierung, nach „guter Arbeit“. Es geht dabei nicht um Missbrauch oder Manipulation, sondern um zutiefst menschliche Mechanismen.

  • Sobald Du als Beraterin mehr willst als Deine Klientinnen, gerät Ihr Prozess leicht aus dem Gleichgewicht.
  • Immer dann, wenn Du „eigentlich“ schon weißt, worum es gehen sollte, rutschst Du unbewusst in Deine eigene Agenda.
  • Öffnest Du Themen, die nie erbeten wurden, überschreitest Du möglicherweise die Grenze zwischen Intuition und Übergriff.
  • Entsteht in Dir das Gefühl, eine Veränderungschance „nicht verpassen“ zu dürfen, kann daraus schnell ein innerer Drang werden, der nicht der Klientin gehört.
  • Bringst Du Deine eigenen Themen unbewusst in den Prozess ein, beeinflusst Du den Weg der Klientin, ohne dass sie es bemerken kann.

Therapeutenfutter entsteht im Grenzbereich zwischen Intuition und Grenzüberschreitung. Zwischen professioneller Verantwortung und persönlicher Wirksamkeit. Zwischen dem Auftrag, der ausgesprochen wurde, und dem Auftrag, den Du gerne hättest. Genau deshalb lohnt es sich, dieses Phänomen präzise zu beleuchten: Denn erst wenn Du erkennst, wie subtil es entsteht, kannst Du verhindern, dass Klient*innen zu etwas werden, was sie nie sein sollten: zu „Futter“ für Deine Selbstbestätigung.

Der leise Moment, in dem Therapeutenfutter entsteht

Es sind oft unscheinbare Augenblicke: Eine Klientin beschreibt ihr Anliegen und in Dir zuckt etwas auf. Ein Gedanke: „Hier steckt doch mehr dahinter, oder?“ Eine Intuition: „Wir sollten tiefer gehen.“ Genau hier beginnt der Übergang, in dem Klient*innen langsam zu Therapeutenfutter werden können: Sie werden unbewusst zum Material, an dem Du Deine Wirksamkeit, Tiefe oder Professionalität erlebst. Doch wann wird aus einem hilfreichen Impuls ein übergriffiger? Wie erkennst Du die innere Grenze? Und wer spürt sie zuerst? Das Problem ist nicht die Intuition, dass in einem Thema noch mehr Hintergrund sein könnte. Vielmehr ist es der Automatismus, der ihr folgt.

Wenn der ursprüngliche Auftrag still verrutscht

Theoretisch beginnt Beratung mit einem klaren Auftrag. Praktisch jedoch verändert sich dieser Auftrag häufiger als man denkt – und das ist völlig normal. Eine Klientin will im Hier und Jetzt Konflikte im Team lösen und Du entdeckst „eigentlich“ ein Selbstwertthema aus dem Dort und Damals. Ein Coachee sucht Entscheidungsunterstützung und Du möchtest ein Kindheitsmuster bearbeiten. Eine Führungskraft will Prioritäten klären und Du siehst eine Chance für eine tiefenpsychologische Intervention.

Doch wem gehört diese Chance? Wessen Weg wird hier beschritten? Und was passiert, wenn der Prozess Meilensteine setzt, die Deine Klient*in nie erreichen wollte? Wenn sich der Beratungsprozess an Deinem inneren Kompass orientiert statt am Anliegen Deiner Klient*innen, wird der Mensch im Raum zum Mittel für einen fremden Zweck. Zum Objekt und damit zu Therapeutenfutter.

Die stillen Treiber: Narzissmus, Perfektionsdrang, Wirksamkeitshunger

Warum passiert dies so oft, so schnell und so unbemerkt? Drei Gründe, die wir uns näher anschauen solllten.

a) Narzisstische Resonanzen

Narzisstische Resonanzen sind in helfenden Berufen keine pathologischen Ausreißer, sondern alltägliche innere Echos. Sie entstehen dort, wo der Wunsch bedeutsam zu sein stärker wird als die Fähigkeit, Dich zurückzunehmen. Vielleicht spürst Du in Dir den Impuls, diejenige Person sein zu wollen, die den entscheidenden Durchbruch ermöglicht? Der Gedanke „Ich kann hier wirklich etwas Großes bewirken“ fühlt sich kraftvoll an und kann unbemerkt die Führung übernehmen. Dieser innere Stolz wirkt warm, motivierend, beflügelnd – und genau darin liegt seine Gefahr. Denn wenn Du unbedingt bedeutsam sein möchtest, beginnst Du schnell, auch dort Bedeutung zu schaffen, wo sie gar nicht gebraucht wird.

b) Perfektionismus

Perfektionismus zeigt sich als innerer Drang, jede Spur eines Musters zu erkennen, jeden Knoten zu lösen und jeden noch so winzigen Schatten zu beleuchten. Er vermittelt Dir das Gefühl, gründlich und professionell zu arbeiten. Doch gründlich und hilfreich sind nicht dasselbe. Vollständigkeit wirkt attraktiv, weil sie die Fantasie in sich trägt: Wenn Du nur tief genug gräbst, wird irgendwann alles klar, rein und heil.
Doch diese Fantasie schmeichelt oft eher Deinem professionellen Selbstbild als der Lebensrealität Deiner Klient*innen. Der Perfektionismus möchte optimieren, sortieren, lösen. Menschen sind jedoch keine Projekte. Und manchmal ist es gerade das Nichtvollendete, das einem Prozess Integrität gibt.

c) Hunger nach Wirksamkeit

Aha-Momente und emotionale Durchbrüche haben einen besonderen Glanz. Sie erzeugen Dynamik, sie berühren, sie beeindrucken. Kein Wunder, dass sie eine beinahe süchtige Anziehungskraft entwickeln können. Wenn Du einmal erlebt hast, wie eine Intervention sichtbar etwas auslöst, trägst Du die Sehnsucht nach Wiederholung fast automatisch in Dir. Dieser Hunger nach Wirksamkeit kann jedoch dazu führen, dass Du nach Momenten suchst, die Du gar nicht herbeiführen solltest.

Die entscheidende Frage lautet: Wessen Bedürfnis wird hier eigentlich gestillt? Das nach echter Entwicklung Deiner Klientin oder das nach Bestätigung Deiner Rolle?

Die Gefahr von egoistischen Kräften im therapeutischen Setting

Gemeinsam erzeugen Narzissmus, Perfektionsdrang und Wirksamkeitshunger ein stilles Kraftfeld, das Deine Klientinnen besonders schnell zu etwas macht, das sie niemals sein sollten: zu Trägerinnen fremder Entwicklungen, zu Therapeutenfutter. Sie verlieren Schritt für Schritt die Führung über ihren eigenen Prozess, während Du unbewusst beginnst, Deine eigene Geschichte in den Raum hineinzuschreiben. Wenn Klient*innen zu Therapeutenfutter werden, ist der Preis unsichtbar, aber tiefgreifend.

Rollentausch im Schatten: Anleitung zur “Unfähigkeit”?

Unmerklich könntest Du in die Rolle der Entscheiderin rutschen, während sich Deine Klientin immer mehr darauf verlässt, dass Du weißt, wohin der Prozess gehen sollte. So könnte die Verantwortung für ihre Entwicklung aus ihren Händen gleiten, ohne dass sie diesen Verlust aktiv bemerkt.

Wachstum nach fremden Maßstäben: Habe ich ihre Ziele schon erreicht?

Deine Klientin könnte beginnen, ihren Fortschritt an Deinen Maßstäben zu messen: Bin ich „tief genug“? Komme ich „gut voran“? Reagiere ich „richtig“? Statt ihrer eigenen inneren Entwicklung zu vertrauen, richtet sie sich möglicherweise nach Zielen, die gar nicht aus ihrem eigenen System stammen.

Fremdsteuerung: Ach, sie wissen schon was richtig ist für mich…

Wenn diese Dynamik sich verstärkt, folgt der Prozess zunehmend Deiner inneren Logik. Die Klientin würde sich auf Themen einlassen, die sie nie gewählt hätte, und einem Weg folgen, der weniger aus ihr selbst kommt als aus Deiner Agenda.

Besonders tückisch: die Tarnung der Tiefe: Hab ich´s ihnen wieder “richtig besorgt”?

Intensive oder emotionale Sitzungen können diese Entwicklung kaschieren. Tiefe wirkt beeindruckend, selbst dann, wenn sie der Klientin gar nicht dient. Die zentrale Frage bleibt: Arbeitet die Klientin noch für sich oder für Dein Bedürfnis, etwas zu bewirken?

Schutz vor Therapeutenfutter: Selbstehrlichkeit

Wie lässt sich verhindern, dass Klient*innen zu Therapeutenfutter werden?

Fragen, die Du Dir als Berater*in immer wieder stellen solltest:

  • Wem diene ich gerade?
  • Warum möchte ich dieses Thema vertiefen?
  • Was macht es mit mir, wenn die Klientin in ihrem Tempo geht – und nicht in meinem?
  • Würde die Klientin dieses Thema auch wählen – oder wähle ich es für sie?
  • Wozu brauche ich meine Klient*innen?

Am Ende zeigt sich: Professionelle Haltung beginnt nicht dort, wo Du besonders tief gräbst, besonders viele Knoten löst oder besonders eindrucksvolle Prozesse gestaltest. Ihre höchste Form liegt in der Fähigkeit, Dich selbst zurückzunehmen. Es ist die Kunst der Selbstbegrenzung. Die Fähigkeit, nichts zu wollen, nicht zu schieben, nichts beweisen zu müssen und auch nicht glänzen zu wollen. Nur so entsteht der Raum, den Deine Klientinnen wirklich benötigen: ein Raum, in dem sie ihren eigenen Weg entdecken können. Ein Raum, in dem sie nicht zu Therapeutenfutter werden, sondern zu Autor*innen ihrer eigenen Entwicklung. Und vielleicht ist genau das die entscheidende Frage, die Du Dir immer wieder stellen solltest: Bist Du wirklich bereit, diesen Raum offen zu lassen?

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