Hast Du Dir selbst auch schon einmal diese Fragen gestellt? „Warum bin ich eigentlich so?“ Warum reagiere ich so empfindlich? Warum fällt mir Nähe (oder Distanz) so schwer? Warum drehe ich mich immer wieder in denselben Mustern? Diese Fragen begegnen mir in der therapeutischen und beratenden Arbeit immer wieder. Sie sind kein Zeichen von Schwäche, sondern für mich ein Ausdruck einer tiefen menschlichen Sehnsucht: sich selbst (besser) zu verstehen. Und hier beginnt in der beraterisch-therapeutischen Arbeit etwas ganz Wesentliches: Wer sich versteht, kann beginnen sich weiterzuentwickeln, kann Menschen und Umgebungen aufsuchen, die ihm oder ihr guttun und sich selbst annehmen.
Der Mensch ein Produkt aus Anlage und Umwelt, aus Genen und Geschichten?
Wäre es nicht schön, wir würden als leeres Blatt geboren werden und könnten einfach alles darauf schreiben (lassen), was hilfreich und konstruktiv wäre? In uns steckt allerdings eine biologische Melodie, eine Art Grundrhythmus, der schon vor der Geburt erklingt. Fachlich gesprochen meinen wir hiermit eine Disposition, eine Veranlagung, die unser Wesen mitbestimmt. Unsere Erbanlagen legen (auch) fest, wie empfindlich wir auf Reize reagieren, wie schnell unser Herz schlägt, wie leicht wir Stress empfinden oder Freude erleben. Und auch, wie vulnerabel bzw. „empfänglich“ wir für bestimmte Erkrankungen sind.
Hier sprechen wir manchmal von Prädisposition Aber diese Melodie spielt nie allein. Von Anfang an wird sie begleitet von den Eindrücken, Erlebnissen, Stimmen Berührungen und Atmosphären unserer Umwelt. Sie prägt, formt und verändert, was aus unserer inneren Anlage wird. Die psychologische Forschung spricht von einer Synthese aus Anlage und Umwelt. Nicht das eine oder das andere macht uns zu dem, was wir sind. Vielmehr ist es das feine Zusammenspiel beider Faktoren.
Wie (frühe) Erfahrungen sich einprägen und weiterwirken
Das Gehirn können wir getrost als eine Art Resonanzorgan verstehen. Es speichert nicht nur Erinnerungen, sondern auch Stimmungen, Muster und Körperempfindungen. Besonders in den ersten Lebensjahren, wenn sich neuronale Verbindungen rasant bilden, hinterlässt jede Erfahrung Spuren. Kinder, die in einer emotional stabilen, feinfühligen Umgebung aufwachsen, entwickeln ein Nervensystem, das Ruhe und Bindung zulassen kann. Ihre Stresshormone regulieren sich schneller, ihr Herzschlag beruhigt sich leichter. Sie erleben, dass die Welt grundsätzlich verlässlich ist. Kinder, die dagegen in einem Klima aus Anspannung, emotionaler Unberechenbarkeit oder Distanz leben, entwickeln häufig eine andere innere Logik: Ihr Körper bleibt auf Alarm. Sie lernen, Gefühle zu kontrollieren, Nähe vorsichtig zu dosieren, um sicher zu sein.
Anpassung und sicherer Raum
Was einst Schutz bedeutete, wird später oft zu einer unbewussten Barriere, wenn Vertrauen oder Verbundenheit gefragt sind. Diese frühen inneren Landkarten begleiten uns später (meist unbewusst) in Beziehungen, in Arbeitssituationen und in der Art, wie wir mit uns selbst umgehen. Wenn also ein Mensch heute übermäßige Kontrolle braucht, sich schwer auf Nähe einlässt oder sich ständig überfordert fühlt, ist das kein „Fehler im System“. Es ist (sehr oft) ein Ausdruck früher Anpassung. Wir sprechen von einer Reaktion, die einmal sinnvoll war, um zu überleben.
Bindung – der erste Spiegel unserer Seele
Die Bindungsforschung, die unter anderem von John Bowlby und Mary Ainsworth geprägt wurde, hat gezeigt, wie entscheidend unsere frühen emotionalen Begegnungen sind. Sie formen nicht nur unser Vertrauen in andere, sondern auch in uns selbst. Kinder, die sich sicher gebunden fühlen, entwickeln die Fähigkeit, ihre Emotionen zu regulieren und Nähe zuzulassen. Kinder, deren Bedürfnisse wiederholt übersehen oder abgewertet werden, lernen dagegen: Ich bin zu viel. Ich bin zu wenig. Ich muss mich anpassen. Diese frühen inneren Sätze leben in uns weiter und können sich melden wenn Klient*innen sagen:„Ich weiß gar nicht, wer ich wirklich bin. Funktioniere ich nur noch? Eigentlich kann ich mich selbst kaum spüren“.
Als Heilpraktiker*innen Psychotherapie ist es unsere Aufgabe, diese alten Muster behutsam zu erkennen und einen neuen Begegnungsraum zu schaffen, in dem Heilung möglich wird.
Von der Anlage als Potenzial und der Umwelt als Bühne
Vielleicht hilft dieses Bespiel, noch einmal mehr die Ausprägungen von dem zu verstehen, was uns als „Anlage“ mitgegeben wurde. Stell dir einmal diese beiden Kinder vor: Ein Junge liebt es, zu beobachten. Er bemerkt, wenn jemand traurig ist, bevor es ausgesprochen wird. In seiner Familie wird das geschätzt und man nennt ihn „aufmerksam“. Er wächst zu einem Menschen heran, der feine Zwischentöne wahrnimmt. Ein anderes Kind mit derselben Gabe hört täglich: „Stell dich nicht so an, sei nicht so empfindlich, du immer mit deinen Sentimentalitäten!“. Es beginnt, an sich zu zweifeln. Seine Sensibilität wird zur Last, vielleicht sogar zur Quelle von Scham.
Mich selbst besser verstehen: Vom Verständnis zur Selbstannahme
Beide Kinder hatten dieselbe Anlage. Aber die darauf „reagierende Umwelt“ war unterschiedlich. Das Beispiel mag plakativ sein, die Unterschiedlichkeit der „sozialen Umgebung“ und deren Folgen für das Kind sind dennoch unmittelbar deutlich. Erst im Zusammenspiel mit der Umwelt zeigt sich, in welchem Maß das innere Potenzial gelebt werden kann Unsere Aufgabe bei der Begleitung von Menschen in Psychotherapie, psychologischer Beratung oder Coaching besteht also nicht darin, „Menschen zu ändern“, sondern im Verständnis ihnen zu helfen, sich in einem wertfreien Kontext entfalten zu dürfen.
“Selbstverständnis” als befreiende Kraft in der Therapie
Es ist für mich in Beratung und Therapie immer ein schöner Moment, in dem das Herz begreift, was der Kopf schon ahnte: Ich war nicht falsch, ich war einfach vorsichtig. Wenn Menschen erkennen, dass ihr inneres Chaos, ihre Angst, ihre Rückzüge keine „Fehler“ sind, sondern Spuren von Erlebnissen, geschieht etwas Wundervolles. Die (stressige) Anspannung lässt nach. Manchmal ist es so, als würde der Körper sagen: „Puh, endlich versteht mich jemand.“ Wo Scham war, kann (Selbst-) Mitgefühl entstehen. Aus der Frage, was mit mir nicht stimmt, kann die Frage entstehen: „Was brauche ich heute, damit es mir gutgehen kann?“. Dann kann Heilung geschehen und sich anfühlen wie ein „Nachhausekommen“. Darum ist es so wichtig, in der Begleitung von Menschen in Therapie und Beratung diesen wertfreien Raum anbieten zu können.
Ist der Mensch mehr als Biologie und Biografie?
Der Beitrag könnte den Eindruck erwecken, als seien wir Menschen Gefangene zwischen dem, was wir ins Leben mitbringen und dem was uns durch unsere Außenwelt widerfährt. Wir sind aber weder die Summe unserer Gene noch die Summe unserer Erfahrungen, sondern Ausdruck eines lebendigen Wechselspiels. Einerseits zwischen dem, was uns geprägt hat, Andererseits aus dem, was wir selbst daraus machen. So richten wir nicht den Blick auf Schuld und Defizit sondern auf die persönliche Entwicklung im Hier und Jetzt mit der Würdigung von dem, was war. Wir Menschen brauchen oft das Verständnis von dem, was uns wie hat werden lassen und um die Entscheidung zu treffen: Es muss nicht so bleiben! Ich selbst habe die Freiheit, neu zu wählen und neu zu entscheiden. Vielleicht ist das eine der heilsamsten Erkenntnisse: Ich bin nicht das, was ich bisher war oder bin, sondern das, was ich selbst daraus mache.